Anmerkungen zu Diözesan- und Dombibliothek Handschrift 200. Beitrag von Alexander Arweiler in 'Glaube und Wissen im Mittelalter', Katalogbuch zur Ausstellung, München 1998, S. 291-294
Westdeutschland, 9.Jh.
Im System der Sieben Freien Künste, in dem die spätantiken Autoren das Wissen des griechischen und römischen Altertums zusammenstellten und dem Mittelalter als Fundament der Bildung übermittelten, nahm die Grammatik unbestritten die erste und wichtigste Position ein. Neben dem Studium der Dialektik und der Rhetorik bildete die Beschäftigung mit der Sprache, ihren Teilen und ihrem Aufbau die Grundlage des Werdeganges jedes Gelehrten. Diese Hochschätzung der Sprachlehre finden wir erst im 20.Jahrhundert mit dem Aufschwung der sprachphilosophischen und linguistischen Disziplinen wieder. Zunächst mußte sich der Student des Mittelalters - anhand der 'Ars minor', des einführenden Werkes von Donat (ca. 310-380) - mit den Grundlagen der Grammatik und der Auslegung von Dichtertexten befassen, die schon im antiken Unterricht einen festen Bestandteil dieser Disziplin ausmachten. Dann vervollkommnete er seine Studien an der 'Ars maior' und dem umfangreichsten Lehrbuch der grammatischen Wissenschaft, den 'Institutiones grammaticae' des Priscian (Ende 5./Anf. 6.Jh.), von deren ungeheurer Wirkung die mehr als 800 erhaltenen Handschriften beredtes Zeugnis ablegen. Priscian verdichtete zu Beginn des 6.Jahrhunderts in Konstantinopel die lange Tradition griechischer und römischer Grammatiken zu einem Werk, das die Erkenntnisse der Antike in eigenständiger Weise zusammenstellte und als festen Bestandteil der abendländischen Kultur etablierte. Für jedes Kapitel, sei es über die Verbformen, die Verwendung der Pronomina oder die Bedeutung der Konjunktionen, sammelte der Verfasser derart viele Zitate von antiken Schriftstellern, daß die Lektüre des Werkes zugleich eine gute Kenntnis der römischen Literaturgeschichte vermittelte. Umfangreiche Zitatensammlungen wie die des Priscian sind heute oft wertvolle Überlieferungsträger von über die Jahrhunderte geretteten Fragmenten sonst verlorener Schriften.
Die Entstehungszeit des Codex 200 ist auf das 9.Jahrhundert einzugrenzen. Nach einigen eher verfehlten Versuchen der Spätdatierung (s. Hertz, in: GL II 1961, S.XX) setzte Jones (1971, S.71) die Abfassung nach Köln in die Amtszeit des Erzbischofs Hermann I. (889/890-924). Bischoff (1989) sieht eine Verwandtschaft der Handschrift mit einer moselländischen Gruppe von Codices, die wohl zu Beginn des 9.Jahrhunderts in Prüm entstanden ist. Sicher ist dagegen, daß eine Hand des 11.Jahrhunderts den vorhandenen Text um die Bücher 17 und 18 der 'Institutiones' erweitert hat. Das ansprechende Großformat der Handschrift, die absolut regelmäßige Schrift der Bücher 1 bis 16 sowie die zahlreichen Gliederungshilfen und Hinweise auf den Inhalt, die durchgängig am Rand zu finden sind, zeichnen den Codex nicht nur als Gebrauchsexemplar aus, sondern veranschaulichen auch in schöner Weise die Verbindung von zweckmäßiger und ästhetischer Ausstattung eines mittelalterlichen Buches. Randbemerkungen verschiedener Hände sind Spuren intensiven Studiums, wenn auch die Häufigkeit und Ausführlichkeit der Glossierung nach dem vierten Buch abnimmt. Die großen, freigelassenen Blattränder wurden später zum Teil beschnitten, wohl um das ungenutzte Pergament anderweitig zu verwenden.
Alexander Arweiler